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Ausland
19.11.2024

1'000 Tage Krieg: «Wir sind in der Vorhölle»

Mario Aldrovandi protokolliert das Kriegsgeschehen minutiös – und er macht sich grosse Sorgen um die Welt.
Mario Aldrovandi protokolliert das Kriegsgeschehen minutiös – und er macht sich grosse Sorgen um die Welt. Bild: zvg
Heute vor 1'000 Tagen überfiel Russland die Ukraine. Seither veröffentlicht Mario Aldrovandi täglich ein Nachrichten-Bulletin zu diesem Krieg. Wir wollten wissen, was ihn antreibt.

Mario Aldrovandi, Sie halten das Kriegsgeschehen minutiös fest. Was treibt Sie an?
Der Überfall auf die Ukraine durch die Kreml-Mafia unter Putin ist zutiefst schockierend, ungerecht und durch nichts gerechtfertigt. Ich finde es wichtig, dass die Ukraine in diesem Abwehrkampf unterstützt wird, und als Journalist setze ich das ein, was ich kann: Ich verarbeite und verbreite Informationen.
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Wie beschaffen Sie sich die Informationen?
Ich lese täglich um die 30 «X»-Kontos von Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten, etwa 30 Telegram-Kanäle aus der Ukraine, den baltischen Staaten und Russland und mehrere ukrainische Medien. Hinzu kommen mehrere Militärblogs auf Youtube, englischsprachige Medien wie New York Times, Washington Post, Guardian, Sky News, CNN, Bloomberg  und ein paar andere Medien, auf die ich von Zeit zu Zeit stosse. Manchmal sind das auch überraschende Quellen aus dem arabischen Raum oder Asien.
All das ist möglich dank der Profi-Version der Übersetzungssoftware DeepL. 

Wie verhindern Sie, dass sich Fake-News und Propaganda einschleichen?
Das ist eine latente Gefahr. Grundsätzlich suche ich immer die Originalquelle der Information, sofern sie ersichtlich ist. Besonders wenn etwas unwahrscheinlich scheint oder sehr überraschend ist, suche ich unabhängige Bestätigungen. Wenn ich das nicht finde, verzichte ich lieber darauf als auf den Wunsch der Erste zu sein, der etwas Unklares weiterverbreitet. Bisher bin ich damit gut gefahren. In den fast 1'000 Newslettern musste ich  nur 5 oder 6 Mal eine nachträgliche Korrekturmeldung veröffentlichen.

Welche Rolle spielen die Medien in diesem Konflikt?
Die Medien sind wichtig, weil sie zur Meinungsbildung beitragen. Schlecht wird es, wenn es zu einem Herdentrieb kommt und man sich nur noch gegenseitig abschreibt und noch schlechter ist, wenn Medien den Ukraine-Krieg als «neue Realität» akzeptieren und die Berichterstattung einschränken.

«Der Westen hat einen Fehler gemacht: Er hat alles getan, dass die Ukraine nicht verliert, aber zu wenig getan, dass die Ukraine gewinnt.»
Mario Aldrovandi

Wie beurteilen Sie die Rolle des Westens im Allgemeinen und der Schweiz im Speziellen?
Der Westen hat einen Fehler gemacht: Er hat alles getan, dass die Ukraine nicht verliert, aber zu wenig getan, dass die Ukraine gewinnt. Bei den einen herrschte die Meinung vor, dass Russland sowieso nicht zu schlagen ist und bei den anderen war die Sorge da, dass nach einer Niederlage von Putin das Chaos in der russischen Föderation ausbricht. Beide Haltungen finde ich falsch. Die Schweiz hat aus der Geschichte nichts gelernt. Sie verhielt sich bei Hitler-Mussolini neutral und tut es wieder. Kommende Generationen werden sich für die heutige Neutralität der Schweiz schämen, so wie wir uns schämen für das feige Verhalten der Schweiz gegen Nazi-Deutschland.

Hätten Sie es für möglich gehalten, dass es je zu solch kriegerischen Handlungen in Europa kommt?
Ich gehörte zu der Mehrheit der Menschen, die nach 1989 gemeint haben, dass in Europa der grosse Frieden ausbricht und Armeen unnötig und von gestern sind. Wir alle haben uns getäuscht.

Was könnte durch die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten für die Ukraine ändern?
Das ist derzeit völlig unklar. Grundsätzlich sind zwei Szenarien möglich.

Szenario 1: Die USA machen einen Deal mit der Ukraine, Tump und Musk sichern sich die seltenen Bodenschätze im Donbass, welche für die Zukunftsindustrie wichtig sind und im Gegenzug bekommt die Ukraine Waffen à gogo gegen Bezahlung.

Szenario 2: Trump will mit Putin einen Deal abschliessen, eine entmilitarisierte Zone schaffen, wie zwischen Nord- und Südkorea, Russland das Recht auf die eroberten Gebiete lassen und der Ukraine mehr oder weniger grosse Sicherheitsgarantien geben. Beim Szenario 2 unterschätzt Tump allerdings den Widerstand des ukrainischen Volks und auch von einigen europäischen Staaten.

Was bedeutet dies für die Lage in Westeuropa?
Die Nato wird nicht mehr der Selbstbedienungsladen für Sicherheit sein, den die USA finanzieren. Einige Staaten wie Polen oder die baltischen Staaten haben die Gefahr erkannt und rüsten auf. Andere Staaten wie Frankreich, Italien, Spanien, Deutschland dösen weiter vor sich hin und hoffen, dass es schon irgendwie gut kommt. Der Wunsch Frankreichs nach einer starken europäischen Armee scheitert an Frankreich selber und insbesondere an Deutschland und Italien.

«Wir sind bereits in der Vorhölle. Die Achse Moskau – Teheran – Pjöngjang ist vergleichbar mit der Achse Berlin – Rom – Tokio im zweiten Weltkrieg.»
Mario Aldrovandi

Droht ein noch grösserer Konflikt?
Sie meinen den dritten Weltkrieg? Wir sind bereits in der Vorhölle. Die Achse Moskau – Teheran – Pjöngjang ist vergleichbar mit der Achse Berlin – Rom – Tokio im zweiten Weltkrieg. 

Lässt sich dieser Krieg mit anderen Konflikten vergleichen?
Ich sehe keinen direkten Vergleich. In Europa hat sich keine Macht mehr erlaubt, die bestehenden Grenzen in Frage zu stellen. Die Destabilisierungen von Russland unter Putin mit den sogenannten «autonomen Regionen» in der Ukraine, Moldawien oder Georgien waren nur eine sanfte Vorstufe und sind nicht zu vergleichen mit dem Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine.

«Der Ukraine wäre zu wünschen, dass ihre Landsleute wieder zurückkehren können und wollen.»
Mario Aldrovandi

In der Schweiz leben Zehntausende von ukrainische Flüchtende. Wann können diese Menschen wieder in die Heimat zurück?
Die Frage ist, ob sie wollen. Viele ukrainische Familien haben gelernt, wie schön es ist, in einem friedlichen Land zu leben. Ausserdem sind sie beim herrschenden Arbeitskraftmangel willkommen, weil sie oft eine gute Schul- oder Berufsausbildung haben. Ausserdem sind Ukrainer grad im Bereich Computerbeherrschung vielen Schweizern überlegen, weil sie deren Umgang in der Ukraine intensiv gelernt haben.

Der Ukraine wäre zu wünschen, dass ihre Landsleute wieder zurückkehren können und wollen. Denn das Land ist ausgeblutet und hat mehr als ein Viertel seiner Bevölkerung verloren. Jetzt leben noch etwa 35 Millionen Ukrainer im Land. Hinzu kommen all die verkrüppelten und kriegstraumatisierten Menschen. Angesichts der grossen Wiederaufbauarbeit braucht die Ukraine jeden Mann und jede Frau. Benachbarte Länder wie Polen haben das erkannt und bereiten jetzt schon riesige Wiederaufbauprogramme vor.

Stumpfen Sie durch ihre Schreib- und Recherchier-Arbeit nicht irgendwie ab?
Nein. Angesichts des Leidens und des Widerstands des ukrainischen Volkes und der Gefahr für uns alle habe ich auch kein Recht dazu.

Gibt es Hoffnung auf Frieden? Und zu welchem Preis wird er möglich?
Frieden gibt es, wenn die russische Wirtschaft zusammenbricht und die russische Armee weiter reduziert wird. Alle verfügbaren Informationen weisen in diese Richtung.

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Thomas Renggli